
Nils Röller, „Dimensionen des Buchs“. In: Medialität Historische Perspektiven – Newsletter Zentrum für Historische Mediologie Universität Zürich 23/2021
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Schwarze Seiten
In dieser Hinsicht war für die erwähnte Summer School Dimensions of the book die Präsentation der Benway Series weiterführend. Die Reihe publiziert Originaltext und Übersetzung nicht auf gegenüberliegenden Seiten, sondern durch Nutzung der symmetrischen Drehung an der kürzeren Buchkante. So erhalten Originaltext und die Übersetzung auch jeweils eine Umschlagseite. Sie erscheinen voneinander getrennt und doch in derselben Publikation. Dieses Prinzip der Spiegelung nimmt auch Foglio auf, eine andere Publikationsform von Benway. Es sind mit einem schlicht gestalteten Umschlag versehene Veröffentlichungen eines einzelnen Blattes, das gefaltet im Umschlag liegt. Veröffentlicht werden auch hier Übersetzung und Text auf jeweils separaten Seiten des Blattes. Die Aufmerksamkeit der Herausgeber der Benway Series gilt der Erkundung von Blatt und Buch als materiell-haptisch erschliessbare Träger von Zeichen.
Die Publikation Carta da viaggio von Pietro D’Agostino ist dafür exemplarisch. Das weisse Cover verschliesst neun Blätter schwarzes Fotopapier. Beim Öffnen des Buches und dann mit jedem Blättern wird dieses Papier mit Licht beschrieben. Die Bewegung durch das Buch wird zum Auslöser und elektromagnetische Feldveränderung wird fixiert. Es sind die Besitzer des Büchleins, die entscheiden, welche Lichtverhältnisse wie lange auf den Seiten niederschlagen.
D’Agostinos Buch markiert ein Extrem der Erkundung des Spektrums, das Weiss und Schwarz in der Buchproduktion aufspannen. Das ist ein Reflex auf Stéphane Mallarmé. In dem Essay Das Buch betreffend verweist Mallarmé auf das All als Potential und Zielrichtung der dichterisch-künstlerischen Praxis:
Schreiben –
Das Tintenfass, Kristall wie ein Gewissen, mit seinem Tropfen, auf dem Grunde, von Dunkelheit hinsichtlich dessen, dass etwas sei: dann schieb die Lampe zurück.Du bemerkst, man schreibt nicht licht auf dunklem Grund, das Alphabet der Gestirne allein zeichnet so sich ab, skizzenhaft oder abbrechend; der Mensch fährt fort schwarz auf weiss.
D’Agostinos Buch dokumentiert, dass in der Nachfolge Mallarmés das menschliche Schreiben den pencil of nature als Mittel der Schrift anerkennen gelernt hat und damit das menschliche Schreiben in einem Spektrum anderer Schreibweisen positioniert. Indem Mallarmé den Kontrast in Hinblick auf das Buch reflektiert, wird der Fokus auch auf die Frage gerichtet, wie ›scrittura asemica‹ den Wechsel vom Blatt zum Buch organisiert. Marco Giovenale spricht von ›Dialogen‹, die das Schreiben mit der Seite führt. Dialog steht hier im Plural, weil Faktoren auf unterschiedlichen kategorialen Ebenen wie ›Abstraktion‹ ›Zeichen‹, ›unlesbare Grafik‹, ›halluzinierte Gestalt‹ und materielle Aspekte (matericità) daran beteiligt sind.
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